Digitalisierung – was bedeutet das für uns?
Digitalisierung ist eine Bewegung, die eine weitreichende Verhaltensveränderung bewirkt. Und wenn man sich mit diesem Thema intensiver beschäftigt, sieht man, was auf Markt- und Alltagsebene alles an Veränderung stattfindet. Und nachdem wir in Europa immer ein bisschen hinterherhinken, waren wir es gewohnt, nach Westen, Richtung USA, zu blicken, um zu sehen, was auf uns zukommt. Diesmal ist es anders: Um zu verstehen, wie radikal die Veränderungen sind, die die Digitalisierung mit sich bringt, müssen wir unseren Blick nach Osten bzw. Fernost – nach Südkorea, China oder Japan – richten. Hier wächst eine ganz neue Generation innerhalb der Gesellschaft heran. Diese digitale Generation hat ein ganz anderes Denken und eine ganz andere Erwartungshaltung.
 
… inwiefern?
Die digitale Generation hat die Erwartung, dass sie alles „was sie will“ auch zu bekommen hat, und zwar „wo sie will“ und „wann sie will“, und das zu einem fairen Preis. Das lernen sie z.B. durch Streaminganbieter wie Netflix oder große Onlinehändler. Und mit dieser Erwartungshaltung gehen sie natürlich auch an den klassischen Konsum heran.
Weiters sind sie durch die Digitalisierung so geprägt, dass sie permanente Veränderung und permanente Wandel erwarten – auf Knopfdruck sozusagen. Gegenüber dieser Erwartungshaltung wird es für statische Produkte – wie es eine klassische Verpackung ist –  natürlich entsprechend schwer zu bestehen.
Das gilt ebenso für Marken. Früher hat man starke globale Marken gesucht, in Zukunft werden persönliche Marken – „meine“ Marke – im Mittelpunkt des Interesses stehen.
Dieses Verhalten bedingt auch eine Veränderung der Geschäftsmodelle. Heute haben wir ein Produkt, suchen eine Zielgruppe und bauen den Markt darum auf. In Zukunft wird die Zielgruppe ihre Wünsche aktiv formulieren und ganz konsequent Produkte fordern. Der Markt ergibt sich auf diese Weise automatisch. Wir rutschen somit in eine ganz andere Chronologie der Abläufe.
 
Das bedeutet das Ende des Massenmarktes. Man muss mit seinen Produkten und damit der Verpackung sehr differenzierte Zielgruppen bedienen können.
Nicht ganz, denn das, was Sie meinen, ist ja nichts anderes als das alte, vielleicht nun etwas filigranere Denken in Zielgruppen. D.h., wir reduzieren die Bevölkerung in Bedarfsgruppen und das impliziert wiederum, dass die Industrie in der Gestalterrolle ist. Und das wird sie, meiner Meinung nach, in Zukunft nicht sein. Sie wirft nicht mehr die Fragen oder die Trends auf. Sie muss sie nur mehr beantworten können, das aber sehr konsequent.
 
Können Sie das erläutern?
Gehen wir einmal von der Konsumenten- auf die Handelsebene. In China schließt Walmart einen Supermarkt nach dem anderen. Ganz einfach, weil die Leute nicht mehr hingehen. Denn mittlerweile kaufen 450 Mio. Chinesen das klassische Supermarktsortiment online. Somit müssen sich auch die Absatzkanäle den neuen Gegebenheiten anpassen.    
 
Welchen Stellenwert hat die Verpackung in diesem Online-Szenario?
Einen sehr hohen! Lassen Sie mich das anhand eines Beispiels dokumentieren: Seit viereinhalb Jahren gibt es in China einen Hersteller von Nuss-Snacks, der seine Nüsse – im dekorierten Beutel verpackt – ausschließlich online vertreibt. Umsatz: 900 Mio. US-Dollar – und das nach viereinhalb Jahren! Aber worin liegt das Erfolgsgeheimnis, denn Nüsse gibt es ja viele. Werfen wir einen Blick darauf, wie dieses Produkt geliefert wird und wie es verpackt ist: Zu Hause kommt eine schöne kleine Kiste an, auf der ein Etikett angebracht ist, auf dem zu lesen ist: „Dear Mr. Mailman! Thank you for delivering me to my master.“ Dieser Dank an den Postboten ist auch zugleich der erste Kniefall vor dem Konsumenten, der ja der Meister in diesem Szenario ist. Noch bevor Sie Hand an die Kiste legen, finden Sie außen ein kleines Kunststoffmesser. Das können Sie abnehmen und die Kiste ganz bequem öffnen. Im Inneren befindet sich zum einen – sehr emotional bedruckt – die eigentliche Produktverpackung und zum anderen ein kleiner wiederverschließbarer Beutel, in dem sich weitere Accessoires und ein kleiner Gimmick für die Kinder befindet, sowie ein Tuch, mit dem man sich die Hände, nach dem Verzehr der Nüsse, reinigen kann.
Dieses Involvement des Konsumenten durch die Verpackung geht letztlich weit über unser europäisches Convenience-Denken, das eigentlich beim leichteren Öffnen und Wiederverschließen der Verpackung endet, hinaus. Und nur nochmals zur Verdeutlichung: Von 0 auf eine knappe Milliarde Dollar Umsatz in viereinhalb Jahren! Hier geht es nicht um irgendeine kleine „nischige“ Bewegung. Sondern ein solcher Erfolg gelingt nur über konsequente Antworten auf eine große flächendeckende Bewegung. Und in diesem Spiel ist die Verpackung, wie man anhand dieses Beispiels sieht, ein ganz entscheidender Faktor.
 
Mit der richtigen Verpackung zum Erfolg?
Man muss schon aufpassen, denn Verpackung ist ja kein Selbstzweck, sondern die Antwort auf Konsumentenbedürfnisse. Lassen Sie mich noch ein Beispiel, diesmal aus der „Individualisierung“, bringen: Im Rahmen der ersten Kampagnen wie „Share a Coke“ oder auch den aufgedruckten Namen auf den Cola-Dosen bzw. Etiketten wurden rund 400 Mio. individualisierte Getränkeverpackungen auf den Markt gebracht. Und wir stellten fest, wie sehr eine individuelle Ansprache die Reaktion der Konsumenten änderte. Sie nahmen die Flaschen in die Hand und suchten zu allererst den Namen. Und wir wissen, wenn eine Verpackung im Handel erstmals in die Hand genommen wurde, steigt die Kaufwahrscheinlichkeit signifikant. Und diese Kampagne war ja auch entsprechend erfolgreich. Auch heute sehen wir überall dort, wo wir Konsumenten individualisiert ansprechen, dass der Verkauf nach oben schießt. Und das sind auch keine Nischen-Bewegungen mehr. Früher befand sich der Anteil einer Promotionkampagne mittels Verpackung im Promillebereich, aber aus meiner Sicht werden diese Aktionen zum Alltag werden. Es geht hier auch nicht um ein paar tausend oder 100.000 Verpackungen, sondern wir reden hier von Millionenstückzahlen. Und damit wird auch das Marketing die Verantwortung über die Verpackung zunehmend übernehmen.
D.h., ich muss den Konsumenten über die Verpackung viel erwartungsgerechter ansprechen. Ich will jetzt einmal mutig sein und eine Prognose wagen: Ich bin überzeugt davon, dass die Verpackung der Werbespot der Zukunft sein wird, denn sie stellt ja auch das reale werbliche Erlebnis dar. Die Verpackung ist der Hauptkommunikator mit dem Kunden.
 
Und was heißt das letztlich für die Verpackung?
Während wir heute ein sehr strategisches, bis ins kleinste Detail durchdachtes Verpackungsdesign haben, wo Farbe, Icons, Logos, Bilder und Schriften komplett durchdefiniert sind, wird in Zukunft nur mehr das Logo und das Produktbild für die Corporate Identity sorgen. Die restliche freie Fläche wird genutzt werden, um individualisierte Geschichten zu erzählen. Damit meine ich nicht bewegte, sondern sich ständige ändernde Bilder, je nach Geschichte. Einmal geht es um Fußball, ein anderes Mal um Party …
 
… aber es ist ja technisch durchaus möglich, die Verpackung mit bewegten Bildern zu verknüpfen.
Das ist richtig. Wir müssen auch zwei Dynamiken beachten. Zum ersten wird sich das Verpackungsdesign ändern. Es wird taktischer, vielfältiger und situativer, wie oben beschrieben. Und zum zweiten – und das ist das, was Sie meinen – wird die Verpackung zur Schnittstelle in eine virtuelle und digitale Welt. Jetzt wieder der Blick nach Fernost, wo Verpackungen diese Rolle bereits einnehmen. Hier finden wir z.B. auf einer Snackverpackung über getrocknete Kartoffelchips einen QR-Code, der uns via Smartphone in die virtuelle Spielewelt des Snackherstellers führt. Und über dieses Gaming findet eine ganz neue Form der Kundenbindung statt. Die virtuellen Möglichkeiten sind hier nahezu unbegrenzt.   
Allerdings müssen beide Dynamiken in der Verpackungsentwicklung berücksichtigt werden. Einfach die streng durchde-signte Verpackung der Gegenwart über ein technisches Hilfsmittel – QR-Code, NFC, RFID etc. – als Interface zur digitalen Welt zu nutzen, wird nicht zielführend sein. Es muss sich auch das Design den neuen Gegebenheiten anpassen.
 
Man könnte versucht sein, anzunehmen, die Digitalisierung und der damit steigende Onlinehandel reduziert die Rolle der Verpackung auf die eines reinen Verkäufers?
Das wäre ein fataler Fehler. Denn Digitalisierung lässt – direkt oder indirekt – keinen Bereich unberührt. Und Verpackung auch nicht. Nehmen Sie nur den Produktschutz her. In den Logistikcentern wird mit Verpackungen alles andere als zimperlich umgegangen. Da gibt es keine sortenreinen Paletten, alles steht unter der Prämisse der effizienten und raschen Lieferung. In diesem Sinn steht auf der Palette die filigrane Parfümverpackung neben, unter oder über der voluminösen Waschmittelverpackung. D.h. in puncto Schutz muss die Verpackung ein Upgrade erfahren, um der rauen Logis-tikkette standzuhalten. So hat Procter & Gamble in den USA eine Verpackung rein für den Onlinehandel konzipiert. Aus einer Flasche wurde so eine flexible Verpackung, die es allerdings vorher so nicht gab. So wurde z.B. ein eigenes Sicherheitskonzept für den Verschluss entwickelt.
 
Jetzt sind wir bei den Aufgaben der Industrie angelangt. Worauf muss sie aufpassen, um den „Digitalisierungszug“ nicht zu verpassen?
Aus meiner Sicht gibt es zwei wesentliche Themen. Zum einen muss man natürlich seine Produkte, sprich Verpackungen, entsprechend anpassen, und zwar nach den Kriterien, die wir eben besprochen haben. Aber, und nun kommen wir zum zweiten Punkt: Die Digitalisierung muss auch auf der Prozessebene innerhalb des Unternehmens Einzug halten. Ich bin mir sicher, dass alles, was digital werden kann, auch digital werden wird – und das in radikaler Form. 
 
Wie darf man das verstehen?
Digitalisierung hat im Prinzip drei Facetten. Erstens: Die Digitalisierung von Information. Zweitens und darauf aufbauend: Die Automatisierung von Abläufen, sprich, der digitale Workflow. Und zwar nicht nur auf einer Stufe der Wertschöpfungskette, sondern es müssen auch die über- und untergeordneten Partner innerhalb der Kette eingebunden werden. Konsequent weitergedacht heißt das: Auch der Entscheidungsprozess auf der Markenartiklerebene muss digitalisiert, automatisiert und mit den Abläufen des Lieferanten synchronisiert werden. Das ist eine wirklich radikale Veränderung und wird von vielen völlig unterschätzt. Und als dritte Facette wird, wo es möglich ist, dematerialisiert. D.h., dort wo wir uns heute physisch bewegen, wird das in Zukunft nicht mehr nötig sein – z.B. virtueller Anlagenbau, digitaler Zwilling, aber auch digitale Medien etc.
 
Was heißt das für die Unternehmen?
Die Unternehmen müssen sehr schnell eine digitale Kompetenz aufbauen, ansonsten können sie von anderen – auch branchenfremden – Firmen, die über die notwendige digitale Kompetenz verfügen, überholt werden.
Digitalisierung bietet für Unternehmen im Wesentlichen drei Dinge: Hohes Potenzial zur Kostensenkung, schnelle Reaktionsgeschwindigkeiten und als drittes: Service- und Prozessinnovationen. Digitalisierung generiert in diesem Bereich einen unglaublichen Mehrwert. Für Unternehmen werden in gewissen Märkten Service- und Prozessinnovationen profitabler sein als Produktinnovationen.
Für alle Unternehmen, die erkennen, dass diese drei Bereiche einer anderen Dynamik gehorchen und auch einen anderen Umgang erfordern, hält die Digitalisierung ein wahres Füllhorn bereit.
Aber eines muss auch klar sein: Man darf sich nicht auf die kollektive Verschlafenheit der Industrie verlassen, denn mit der Digitalisierung ändert sich auch das Wettbewerbsumfeld. Räumliche Grenzen gibt es in der digitalen Welt nicht. Auch der regionale Anbieter muss sich darauf einstellen, dass er plötzlich globale Konkurrenz bekommt.
 
Apropos Verschlafenheit: Wie ist die Industrie auf den digitalen Wandel vorbereitet?
Die Industrie erachtet die Notwendigkeit des Wandels als sehr wichtig. Sie unterliegt nur einem großen Denkfehler: Sie glaubt, er kommt erst. In Wirklichkeit ist er aber bereits da.
 
Vielen Dank für das Gespräch.
 
Das Interview führte Mag. Gernot Rath, Chefredakteur der Pack & Log.

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